Ahnungen des Körperlichen – zu einen Körperfilm von Claudia Liekam | sphärisch
Mit Vorsicht, langsam und spürbar behutsam, so scheint eine Kamera distanziert feinfarbige Bildwelten zu filmen. Claudia Liekam lässt dem Betrachter in ihrem Video „Dermes Biographica“ dabei Zeit, zu schauen, wahrzunehmen, sich einzufinden in die ruhige, fließende Bildsphäre. Zunächst ließe sich ein großes, traditionell motiviertes Aquarell vermuten, eine erst noch zu entschlüsselnde Tuschezeichnung, weich und beinahe konturlos. Dabei sollen die fließenden Bildfolgen, so scheint es, nicht zu schnell erschlossen, enträtselt, erfasst werden. Noch soll ein Hauch des Unbenennbaren gewahrt bleiben, ein Film des offenen, unbestimmten Hinsehens, die Erfüllung einer Sequenz des Geheimnisvollen, wie sie unserer rationalen Zeit schon längst abgeht. Doch allmählich eröffnen sich Sphären gezielter Bildfragmente. Hinter diesen Bildern lässt sich dann ein menschlicher Körper erahnen, der durch ein dichtes Werk von Tätowierungen überzogen ist. Die gesamte Körperhaut eines Menschen scheint hier als Bildoberfläche und damit als Sinnfläche eigener Fragen, Erlebnisse, Bezüge und Anschauungen verstanden. Zum Bildträger erweitert wird die Haut Präsenzfläche visueller Darstellungen, die im Film zu Sphären des Gedachten gesteigert sind.
fragmentarisch
Durch die Kamera wird kein bestimmter Ausschnitt des Körpers gezeigt. Die Kameraführung durch Claudia Liekam konzentriert sich ausschließlich auf die dichten Bildsphären, die zu Bildfriesen zusammengerückt scheinen. So sind nicht spezifische Körperteile oder Gliedmaßen sichtbar, sondern man wird Teilhaber eines schleichenden Suchens nach Bildzusammenhängen. Die Oberfläche des tätowierten, anonym bleibenden Körpers offenbart sich während dessen als sich bewegende, atmende Hülle und elastische Leinwand des Körpers. Erlebnisse, Erinnerungen, Vorstellung, Wünsche, die hier sichtbar werdende Haut versammelt viele Fragmente aus dem Leben eines Menschen, der eine eigene Entscheidung für den Umgang und für sein Leben mit seiner Haut getroffen hat. Nach und nach eröffnet sich die Ahnung einer selbst erfundenen, additiv zusammengesetzten Körperhülle. In zärtlichsten Farben gehalten, so wie Haut eben Farbe aufnehmen kann, verschwimmen zahllose präzise Darstellungen. Dabei wird eine zum Panorama gesteigerte Bildhaut sichtbar. Es entsteht ein fragmentarisches Biographiepanorama. Claudia Liekam widmet sich dem Eigenleben der Tätowierungen. Nachdem sich durch die Begrenztheit der Kameramöglichkeiten eine Spur von Bildern abzeichnete, setzt sich nun eine figurale, symbolische, filigrane, ja florale Welt von Bildern zusammen. Die Hautbilder summieren sich schließlich zu einem vielfältigen Körperbild. Dabei ist es nicht die Absicht, das Körperbild im Ganzen erkennbar werden zu lassen. Claudia Liekam führt die Kamera so, dass ihre eigene, erfühlte, erkundete Abfolge von Hautbildern entsteht, die sich allerdings schon beim nächsten Film neu zusammensetzen kann.
meditativ
Mit der Kamera und durch den Film gefiltert, nähern wir uns der Intimität eines menschlichen Körpers. Orientiert an der Integrität des gefilmten Menschen und seines Körpers, aber auch durch das eigene Körperfühlen sensibilisiert, sucht Claudia Liekam mit ihrer Kamera den Körper behutsam ab. Ihr schweigsames Abtasten der bebilderten Haut wird dabei nach und nach zu einem stillen Ritual der Erkundung. Es nimmt meditative Züge an. So entsteht vor dem Auge des Betrachters in der maßvollen Überschaubarkeit des menschlichen Körpers allmählich eine unbestimmte Körperlandschaft. Das Betrachten selbst scheint sich in Langsamkeit zu ritualisieren. Dabei gelingt es der Künstlerin, die Intimität des gefilmten Körpers zu bewahren. Indem sie körperliche Nacktheit zeigt, schützt sie in der Art ihres Tuns zugleich diesen Körper. Durch die Tätowierungen und die Nähe der Kamera zum Körper wird die verletzliche Nacktheit des Körpers selbst geschützt. In einer Zeit prüder Verhüllung oder obzessiv aufdringlicher Nacktheit dienen ihr die Tätowierungen als ein eigenständiges Bildkleid, ein Körperkostüm. Die Tätowierungen sind eben nicht nur Bildwelt. Es geht Claudia Liekam um den Schutz des Körpers als Nacktsein, die nicht einfach in eine mediengierige Öffentlichkeit ausgeschüttet wird, sondern die Respekt fordert, Respekt vor der Körperlichkeit, Respekt aber auch vor den Tätowierungen, Respekt also vor dem Umgang des Menschen mit seinem Körper.
deutend
Die Tätowierungen avisieren zu Botschaften eines durchlebten Lebens. Der Betrachter entdeckt eine alternative Körperlichkeit, in der die Haut archetypischer Bildträger geworden ist. Darin ist ein Prozess der Ablösung des Körpers von den Tätowierungen wahrnehmbar, den Claudia Liekam herausstellt: Der Körper bekommt eine neue, eigenständige Schicht seiner Besehbarkeit. Die Haut als gewachsene, naturgegebene Hülle wird zurückgestellt, während die Bildsphären als inszenierte, selbst interpretierte und ausgewählte Oberfläche in den Vordergrund treten. Erkennbar wird ein gleichsam lebendiger Körper, überformt mit Deutungen des Lebens. Dabei scheinen sich Haut und Bild einander verselbständigen zu können. Die Haut ist gestaltbare Hülle, die den Körper umgibt. Dabei umschließt die Haut als Hülle den Körper, doch sie kann offensichtlich alles aufnehmen, was in sie eingegeben wird. Die Haut wird so zur lebendigen, atmenden Leinwand. Das Leben selbst hat Gravuren, Tätowierungen in sie eingebrannt, Bildnisse, Hinterlassungen, Ornamentierungen. Diese sollen nicht nur im Gehirn abgelagert bleiben, nein, in ihrer Wahrnehmbarkeit zeigen und eröffnen sie Geheimnisvolles. Indem nichts erklärt, nichts gedeutet wird, erhöht sich die Sichtbarkeit des Unausgesprochenen. Der Körper wird Träger seiner eigenen, körperlichen und visualisierten Lebensdeutung.
total
Die Ruhe des Films weitet den Körper zur Sphäre einer lebendigen, atmenden Skulptur, die gleichzeitig ein lebendiger Körper bleibt. Damit ist das Leben, ist die Haut, ist das Bild, sind die Tätowierungen der Vergänglichkeit preisgegeben. Mit dem Verfall des Körpers vergeht seine Haut, vergehen seine Bilder und Tätowierungen. Und doch, alle körperlichen Darstellungen, bildhaft eingegeben in die Haut, sind begleitende Hoffnungsträger eines Lebens, das über den Tod hinausreicht. Sie sind nicht zu entkoppeln vom lebenden, tätowierten Menschen. Dessen Haut und die in ihr eingefügten Bilder verschränken Haut und Bild so stark, dass in seiner Konsequenz etwas Totales, Vollständiges entsteht. Die Ganzheitlichkeit der den gesamten Körper umspannenden Haut widerspiegelt sich als totale Ganzkörperlichkeit der Tätowierungen. So wird die Haut als urtümlichste materielle Nähe zum Selbst gesteigert. Die durch Tätowierungen gestaltete und gehöhte Haut hilft den Bildträger Mensch, in einer Masse von Menschen sein Selbst zu sein. Durch die eigenen Erinnerungen, Absichten, Ahnungen und Identifikationen mit dem Körper wird gewahr, wie sehr Menschen tief in ihrer eigenen Zeit, ihrer Körperzeit leben. Ganzheitlichkeit wird Körperlichkeit. Claudia Liekam befördert zu Tage, was als tiefgehendes Wesensmerkmal unserer vergänglichen Existenz anzusehen ist: Du kannst nicht aus deiner Haut heraus, aber du kannst ihr dein gleichnishaftes Bild eingeben. Ausgelöst durch die Erkundung im Film, bekommen die Tätowierungen eine neue Aufmerksamkeit. Was sonst im Intimen bleibt, hier tritt es der Gesellschaft offen, zumindest offener gegenüber. Indem Tätowierungen einer Lebenshaltung entsprechen, werden sie im Film zu einer zusätzlichen Haut des Menschen. Einer Häutung gleichend, befördert der Film von Claudia Liekam eine neue Stofflichkeit des Verhüllens, die unmittelbare Bildhaut in der Körperhaut. Eine einheitliche Wahrnehmung der Welt ist in unserer hoch technisierten, relativierenden und modernen Welt kaum noch möglich. Der individualisierte Blick des Künstlers trifft auf den individualisierten Blick des Betrachters. Wo sich beide treffend überlagern und im jeweils eigenen Blick ein Bild des Allgemeingültigen entsteht, dort liegt die Spur des Künstlerischen. Claudia Liehkam bietet dazu eine symbiotische Überlagerung: der Körper eines Menschen, dessen Hautwelten einer völlig eigenen Ambition folgen, trifft auf die vielen Menschenblicke, die selbst einen eigenen Umgang mit ihren Körper leben. Der vorliegende Film wagt notwendig die Grenze dazwischen zu zeichnen. In dem hier ein Mensch exemplarisch einen ausgedehnten Körperanblick gewährt, sind andere angeregt, sich ihres Umgangs und ihrer Inszenierungspotenziale um den eigenen Körper zu stellen. Das eigene, elementare, große Ich wird gleichsam im Moment der Filmwahrnehmung überdacht. So überlagern sich trefflich zwei Formen unserer Weltwahrnehmung zu sich allmählich erschließenden Ahnungen des Körperlichen; einerseits die Tätowierungen als unmittelbare, auch schmerzhafte Körpererfahrung und andererseits die behutsam geführte Bildkamera als distanzierte Körperbeobachtung; einerseits Unmittelbarkeit und Erfahrung, andererseits Distanz und Beobachtung. Die uns vertrauten Sinnzugänge zu unserem Dasein, hier sind sie einmal mehr in Gleichzeitigkeit verschränkt.
Dirk Manzke (Professor an der Fachhochschule Osnabrück; er hat in Dresden und Tbilissi Architektur studiert und arbeitet heute u.a. am Thema „Körper und Stadt“ als Fotograf, Autor und Referent)